Es gibt Sätze, die wie ein innerer Zusammenbruch klingen, aber in Wirklichkeit ein Aufbruch sind. „Ich weiß nicht mehr, wer ich bin“ – dieser Satz markiert nicht das Ende eines Selbst, sondern den Anfang der Möglichkeit, sich selbst jenseits aller Vorstellungen zu erkennen. Der Mensch wächst auf in einem Gewebe von Zuschreibungen: Namen, Rollen, Erwartungen. Von klein auf lernt er, sich zu benennen – als Sohn, Tochter, Schüler, Arbeiter, Liebender, Erfolgreicher, Versager. Diese Bilder formen sich zu einem Ich-Gefühl, einer Identität, die Halt gibt. Doch dieser Halt ist fragil. Er hängt an Umständen, an Anerkennung, an Geschichten, die oft mehr übernommen als gewählt sind.
Was geschieht, wenn all das wegbricht?
Wenn plötzlich keine Rolle mehr passt? Kein Beruf mehr spricht? Keine Beziehung mehr definiert, wer man ist? Dann zeigt sich eine Leere – nicht als Nichts, sondern als Befreiung von dem, was man nicht ist. In dieser Leere wird die Oberfläche still. Keine Maske spricht mehr, keine Vorstellung meldet sich. Was bleibt, ist das schlichte, rohe Sein – das pure Bewusstsein, das sich selbst begegnet, ohne etwas zu sein.
Diese Leere ist keine Leere im negativen Sinn. Sie ist nicht depressiv, nicht nihilistisch. Sie ist offen. Weit. Ein stiller Raum, in dem sich das Echte zeigen kann. Nur wer nichts mehr behauptet, kann Wahrheit empfangen.
Philosophisch ist dies kein neues Bild. In der Mystik des Westens, bei Meister Eckhart, heißt es:
„Der Mensch soll so leer sein von allem Eigenen wie er war, ehe er war.“ Eckhart spricht von der Entwerdung, einem Rückzug aus allem Gemachten, damit das Göttliche sich zeigen kann – nicht als Gedanke, sondern als unmittelbares Sein.
Auch der Buddhismus lehrt: Das Ich ist leer – leer von Festigkeit, leer von Eigenwesen. Diese Leere ist nicht Mangel, sondern Freiheit. Wer nicht festgelegt ist, ist beweglich. Wer nichts ist, kann alles sein. Śūnyatā, die Leere, ist die Natur aller Dinge – und in ihr liegt die Möglichkeit, ohne Anhaftung zu leben.
In der modernen Existenzphilosophie klingt dies bei Jean-Paul Sartre an. Für ihn ist das Bewusstsein ein Nichts, das sich immer erst entwirft. Es hat keine feste Substanz. Es ist leer – aber gerade deshalb frei. Der Mensch ist verurteilt zur Freiheit, sagt Sartre, weil er nichts ist außer dem, was er wählt zu sein. Der Zustand des „Ich weiß nicht, wer ich bin“ ist dann nicht Krise, sondern Offenbarung: Ich bin noch nicht festgelegt. Ich bin offen.
Die Leere ist also nicht das Ende, sondern der Ursprung. Sie ist nicht Abwesenheit von Sinn, sondern der Raum, in dem sich Sinn zum ersten Mal ungefiltert zeigen kann. Zwischen den endlosen Kulissen aus Eindrücken, Meinungen und glänzenden Lebensentwürfen wirkt die Leere wie ein Stromausfall im grellen Theater des Ichs – irritierend, befreiend, echt. Sie ist kein Rückzug, sondern ein Aufwachen hinter der Fassade.
Wer den Mut hat, in dieser Leere zu verweilen, wird nicht auf ein neues Etikett stoßen, sondern auf etwas viel Stilleres: auf das eigene, unbezeichnete Dasein. Auf ein Selbst, das nicht redet, sondern atmet. Nicht handelt, sondern einfach ist. Dort beginnt Wahrheit.